Dr. Hans Mathias Kepplinger
Professor für Empirische Kommunikationsforschung
am Institut für Publizistik der Universität Mainz

Die Reaktorkatastrophe bei Fukushima in Presse und Fernsehen in Deutschland, Schweiz, Frankreich und England

Das schwere Seebeben vor Japan am 11.März 2011 hat zwei Katastrophen ausgelöst - einen extremen Tsunami, dem vermutlich mehr als 30.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, und den Reaktorunfall in Fukushima, durch die drei Menschen ums Leben gekommen sind und deren Strahlung vermutlich zwischen 100 und 1.000 zusätzliche Krebstote verursachen wird. Dies wirft zwei Fragen auf: Wie haben europäische Medien darüber berichtet und wie kann man ihre Berichterstattung erklären? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde die Berichterstattung über das Seebeben, den Tsunami und die Reaktorkatastrophe vom 11. März bis zum 10. April in 25 Zeitungen und Zeitschriften sowie 12 Fernseh-Nachrichtensendungen aus Deutschland, Frankreich, England und der Schweiz analysiert.
Die wichtigsten Ergebnisse kann man zu sechs Feststellungen zusammenfassen: (1) Deutsche Medien haben über die Katastrophe in Japan wesentlich intensiver berichtet als die Medien ander Länder. (2) Deutsche Medien haben vor allem wesentlich mehr Berichte über die Reaktorkatastrophe und Bilder davon gebracht. (3) Sie haben schon am dritten Tag intensiv über die Bedeutung der Reaktorkatastrophe in Japan für die Kernenergie in Deutschland berichtet - ein Thema, das vor allem in England und Frankreich keine große Rolle spielte. (4) Die Konzentration auf die Kernenergie in Deutschland wurde vom Beschluss der Bundes- und Landesregierungen zu einem Moratorium zusätzlich angeheizt. (5) Die Medien in Deutschland und der Schweiz haben im Unterschied zu den Medien in Frankreich und England sehr häufig Forderungen nach einem Ausstieg aus der Kernenergie veröffentlicht. (6) Bei fast allen Medien bestand ein Zusammenhang zwischen den wertenden Aussagen der Journalisten zur Kernenergie und den Urteilen der zitierten Experten. So wurden beispielsweise die positiven Aussagen über die Kernenergie der Journalisten in Le Figaro von positiven Expertenaussagen begleitet, die negativen Aussagen der Journalisten in der Süddeutschen Zeitung von negativen Expertenaussagen.
Weil die Kernkraftwerke in den vier Ländern ähnliche Sicherheitsstandards besitzen und weil die Entfernung zur Gefahrenquelle in Japan ähnlich groß ist, kann man die Unterschiede nicht durch die berichtete Realität erklären. Man kann sie auch nicht durch die Verfügbarkeit von Bildern erklären, weil viel mehr dramatische Aufnahmen von den Verheerungen des Tsunami vorlagen als von dem Reaktorunfall und seinen Folgen. Die erwähnten Unterschiede sind vielmehr eine Folge der spezifischen Sichtweisen in den jeweiligen Ländern, die innerhalb von Jahrzehnten entstanden sind.